Sonntag, 4. Oktober 2015

Flucht und Vertreibung - Warum ich Europa bereise


Die Flüchtlingskrise hat mir Fragen beantwortet, warum ich so gerne Europa bereise und diesen Kontinent noch besser kennenlernen möchte:

Seit Wochen verfolge ich aufmerksam die Berichte zu den Flüchtlingen aus Syrien, die in hoher Anzahl nach Deutschland kommen. Wenn ich ins Büro fahre - ich steige am Hauptbahnhof in München um - sehe ich die Menschen und ihre Gesichter, wenn sie in München mit dem Railjet, einer österreichischen Bahn, ankommen. Müde, aber glücklich und zufrieden, keine sichtbaren Spuren der schweren Strapazen, die sie hinter sich haben. Es berührt mich mit tiefster Freude - und Achtung, Achtung vor den Menschen, die alles zurückgelassen haben, Achtung vor den Menschen hier, die die Flüchtlinge herzlich empfangen.

Große Flüchtlingswelle am 13. September 2015

Die Anzahl der ankommenden Menschen aus Syrien steigt gewaltig. Alle Kapazitäten in München sind erschöpft, die Behörden überfordert. Am Sonntag, den 13. September 2015 lese ich einen Aufruf, dass Matten für die ankommenden Flüchtlinge fehlen, denn jetzt soll die Olympiahalle frei gemacht werden für mehrere tausend Flüchtlinge, die bereits mit dem Zug unterwegs nach München sind. Ich gehe in den Speicher und hole fünf große weiche Gummimatten herunter, die als Gymnastikmatten dienten. Ich schultere den Berg an Matten, fahre nach München, um sie zu spenden. Der Berg von Schlafmatten dort ist bereits sehr groß, Helfer legen mein großes Paket dazu. Ich trage mich in die Liste freiwilliger Helfer ein. Die Liste ist bereits sehr lang.

Angerufen hat niemand, denn am nächsten Tag wurden Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich eingerichtet, so dass die Zahl der Ankommenden stark zurückging. Weitere Helfer wurden jetzt nicht mehr benötigt.

Ich frage mich, was der Grund dafür ist, dass mich das Thema Flucht und Vertreibung so stark bewegt. Ich finde keine Antworten. Ich packe meine Bergschuhe und gehe in die Berge. Ich weiß, dass ich hierbei Antworten finde. Ich steige hinauf, kehre in einer Berghütte ein und als ich wieder im Tal bin, habe ich Antworten. Ich komme mir vor wie Forrest Gump, nur dass ich nicht an einer Bushaltestelle sitze, sondern in den Bergen rumgehe und einem fiktiven Begleiter mein Leben erzähle und was mich bewegt.


Ich hatte schon von Beginn meines Lebens an viel Glück. Wahrscheinlich haben sich irgendwelche mystischen Wesen - ich nenne sie Glückspferdchen - zur Aufgabe gemacht, mich immerwährend mit Glück zu versorgen.

Das Glück fing schon mal damit an, dass der 2. Weltkrieg bereits seit drei Jahren beendet war, als ich das Licht der Welt erblickte. Der Zeitpunkt meiner Geburt war also gut gewählt. Meine ältere Schwester hatte weniger Glück, sie wurde inmitten der stärksten Kriegswirren geboren.

Deutschland war zum Zeitpunkt meiner Geburt eingeteilt in vier Besatzungszonen für die Siegermächte. Ich wurde in der amerikanischen Besatzungszone geboren. Ich wusste dies nicht und es wäre mir damals auch egal gewesen, es gab wichtigeres für mich. Wichtig war nur, dass ich meine Mutter immer um mich hatte - morgens, mittags, abends und nachts.

Geboren in der amerikanischen Zone

Glück war auch - jetzt zeigt sich, dass die Glückspferdchen sehr weise waren - , dass ich nicht in der russischen Zone geboren wurde. Wenn wir in der Ostzone gelebt hätten hätte ich bis zum Mauerfall 1989 viele für meine Entwicklung wichtigen Jahre in einem totalitären Staat leben und dort ausharren müssen, wenn meine Eltern nicht geflüchtet wären, was noch viele Jahre bis zum Mauerbau 1961 möglich gewesen war. Aber sie wären sicherlich geflüchtet, sie waren sehr tatkräftig.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass die meisten Menschen, die mein Leben prägten, Vertriebene oder Flüchtlinge waren. Wo ist der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen? Ich weiß es nicht. Letztlich ist da aber auch egal.

Erst jetzt fällt mir auf, dass die meisten meiner späteren Mandanten, mit denen ich lang und intensiv zusammenarbeite und sich hieraus viele Freundschaften entwickelten, geflohen sind. Ein besonders tatkräftiger Mandant floh rechtzeitig aus der Ostzone und errichtete hier ein weltweit tätiges Unternehmen. Ein langjähriger Berufspartner, mit dem ich eine eigene Sozietät hatte, erlebte bei der Flucht aus dem Osten als Kind die Bombardierung Dresdens. Viele Freunde aus Weiden in der Oberpfalz wurden aus Tschechien vertrieben. All diese Flüchtlinge schufen hunderte von Arbeitsplätzen und trugen dadurch zu unserem Wirtschaftswunder bei.

Mich faszinierte bei diesen Personen die Entschlossenheit, die Tatkraft und die Akzeptanz Risiken einzugehen, die sie aber stets wohlfein kalkulierten. Allesamt waren sie hochmotiviert, keine Anzeichen einer Sinnkrise und der festen Überzeugung, sie selbst sind ihres Glückes Schmid. Erst jetzt werden mir diese Verbindungslinien zwischen Flucht und Tatkraft bewusst.

Große Flüchtlingswelle bis 1961 aus der Ostzone

Von der großen Flüchtlingswelle aus der Ostzone in die Westzone habe ich nichts mitbekommen. Zum Zeitpunkt des Mauerbaus war ich gerade mal 13 Jahre alt. Ich war wohlbehütet und meine Eltern achteten darauf, dass ich in einer heilen Welt aufwachse, in der es scheinbar keine Probleme, keine schlechten Nachrichten, keine grausamen Erlebnisse gibt. Nichts, selbst Schundhefte wie Micky Maus oder Fix und Foxi hatten mir meine Eltern anfangs verboten, bis sie ihren Widerstand nicht auf Dauer halten konnten. Schundhefte waren damals als Trivialliteratur geächtet, die einer guten Entwicklung eines Kindes abträglich sein würden.

Ich war erst ein halbes Jahr alt, als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Das politische System, die Rechtsstaatlichkeit, die zunehmende Wirtschaftskraft und die Flüchtlinge sollten meiner beruflichen Tätigkeit und meiner persönlichen Entwicklung die wichtigsten Inhalte und Erfolge gaben.

Familie und Staat sponnen sich in einen Kokon ein

Erst sehr viel später wurde mir nach und nach bewusst, was sich damals tatsächlich außerhalb unserer Innenwelt in der Familie abspielte, welche Vergangenheit es gab, die die Gegenwarte prägte. Wir lebten wie in einem Kokon, karg aber weich und in Liebe gebettet, abgeschottet von der realen Außenwelt. Ich wollte mehr über die andere Welt außerhalb unseres Kokons wissen. Ich fragte meinen damaligen Geschichtslehrer, wann wir denn zur ersten Hälfte des 20. Jahrhundert kommen würden. Er sage, dass dies im Lehrplan nicht vorgesehen sei, was bei mir völliges Unverständnis ausgelöst hatte. Die interessantesten Themen wurden also ausgespart! So musste ich mich weiterhin mit dem Mittelalter herumschlagen, was für mich damals so weit weg war wie die Steinzeit. Heute verstehe ich, dass sich auch der Staat zu dieser Zeit in einen Kokon eingrub, um die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auszufiltern.

Die Frage war nun, warum nicht nur die Schule sondern auch meine Eltern die Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von mir fern hielten. Zunächst glaubte ich, dass da bei meinen Eltern nichts Besonderes vorgefallen war, was zu erzählen wert gewesen wäre. Aber mit der Zeit erkannte ich, dass das genaue Gegenteil der Fall war.


Immer mehr wurde mir bei meinen Überlegungen klar, dass meine Eltern mit der Familiengründung erstmals in ihrem Leben Glück fanden und nach einer langen strapaziösen Reise am Ziel ihrer Träume angekommen waren. Zum Schutz dieses Glücks bauten sie dicke uneinnehmbare Schutzmauern um diese Realität, um sie zu verdrängen, um sie dadurch erträglicher zu machen. Es war also der Kokon meiner Eltern, den sie um sich gebaut haben - und ich war Nutznießer dieser abgeschotteten heilen Welt.

Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre - Vater als Frühwaise musste sich um seine minderjährige Schwester kümmern

Ich war schon Jungerwachsener, als ich bruchstückhaft, wie bei einem Puzzle, nach und nach erfuhr, wie das Leben meiner Eltern vor meiner Zeit verlief. Mein Vater verlor bereits als er 15 Jahre alt war seinen Vater, der an Krankheit starb. Mit 21 Jahren verlor er auch seine Mutter durch Krankheit. Diese hat meinen Vater noch rechtzeitig gebeten, seine kleine minderjährige Schwester zu versorgen. Und das alles ereignete sich zur schlimmsten Zeit der Weltwirtschaftskrise. Mein Vater war arbeitslos und zu dieser Zeit eine Arbeit zu finden, war praktisch unmöglich. Erst jetzt wurde mir die Bedeutung der Bilder aus der Weltwirtschaftskrise Anfang der 50er Jahre bewusst, die die langen Schlangen vor einem Unternehmen zeigten, das wenige Arbeitsplätze zu vergeben hatte oder von Menschen mit umgehängten Schildern, dass sie Arbeit suchen. Und zu dieser Zeit sollte mein Vater -gerade dem Kindesalter entwachsen und Vollwaise - sein Versprechen der Mutter gegenüber erfüllen und seine minderjährige Schwester versorgen.

All diese Schwierigkeiten hatte das Schicksal noch damit garniert, dass er als Kind an Kinderlähmung erkrankte und dadurch etwas gehbehindert war. Oder meinten seine Glückspferdchen es gut mit ihm? Denn wegen seiner Gehbehinderung musste er im zweiten Weltkrieg nicht an die Front. 

Welch enorme Kraft man hat, um den Zielen im Leben treu zu bleiben wurde mir erst sehr spät bewusst. Meine Mutter wurde schwer krank, mit 86 Jahren starb sie, und mein Vater - im gleichem Alter - pflegte seine Frau lange mit solch einer Kraft, dass wir Kinder immer Bedenken hatten, er werde das nicht schaffen. Er schaffte es und wurde fast 94 Jahre alt.

Meine Mutter aus einem Bergbauernhof in der Steiermark - kein Platz mehr für alle Kinder

Auch für meine Mutter war die Zeit bis zum Familienglück alles andere als rosig. Sie wuchs als eines von vier Kindern auf einem Bergbauernhof in der Steiermark auf. Die Schule war weit und mühsam und in den Wintermonaten oftmals nicht oder nur schwer erreichbar. Die Eltern meiner Mutter lebten karg, konnten sich aber über Tierhaltung und Anbau selbst versorgen. Voller Einsatz war nicht nur von den Eltern, sondern auch von den Kindern gefordert. Kinderarbeit war also für das Fortkommen der Familie notwendig.

Wie das Leben auf einem Bergbauernhof in den 30er Jahren in der Steiermark gewesen sein muss wurde mir erst bewusst, als ich vor einigen Jahren ein Bergbauernhofmuseum in Tirol in der Wildschönau besuchte. Dort ist ein Bergbauernhof als Museum zu besichtigen, der in den 30er Jahren des vorherigen Jahrhunderts aufgegeben wurde, weil es kein Fortkommen mehr gab. Der Bürgermeister des Ortes organisierte, dass zumindest die jüngeren Bewohner des kleinen Ortes eine Zukunft haben sollten und er organisierte die Auswanderung nach Südamerika, wo ein Ort wie in Tirol errichtet wurde. Dadurch war Arbeit und Fortkommen für die Auswanderer erzielt und für die Zurückgebliebenen reichten die bäuerlichen Erträge.

Die Eltern meiner Mutter hatten Weitsicht. Sie schickten meine Mutter auf eine Haushaltsschule, damit sie alles, was eine Familie braucht, erlernt und damit für einen Ehepartner und eine Familiengründung attraktiv genug ist. So hofften sie, dass sie meine Mutter unterbringen konnten. Das erinnert mich daran, dass es bei den syrischen Flüchtlingen viele alleinflüchtende Kinder gibt, die von ihren Eltern weggeschickt wurden - aus Liebe, um wenigsten den Kindern eine bessere Zukunft geben zu können.

So war auf dem Bergbauernhof kein Platz für meine Mutter. Die Hoffnung ihrer Eltern ging auf. Meine Mutter wanderte 1939 als 26-Jährige aus, indem sie meinen Vater, ebenfalls 26 Jahre alt, aus München heirate und hierher zog.

Schwiegertochter aus Bulgarien

Wie nahe diese Themen in meinem Leben zusammenkommen erfuhr ich durch meine Schwiegertochter. Diese ist in Bulgarien, eines der ärmsten Länder in Europa geboren und aufgewachsen. Die Eltern wollten, dass sie deutsch lernt, um eine bessere Zukunft zu haben, die sie in Bulgarien nicht finden könne. Meine Schwiegertochter machte dies und kam dann nach Deutschland, um zu studieren. Sie schaffte es aus eigener Kraft und ihr war wichtig, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit ohne Heirat erreicht. Erst als sie die geschafft hat, heiratete sie meinen Sohn. Auch bei ihr sehe ich die überaus große Tatkraft.

Wieder zurück in meinem Leben: Irgendwann interessierte mich, wie sich meine Mutter und mein Vater kennengelernt hatten. Mir war nicht klar, wie ein Mann aus München während der dunklen 30er-Jahre ein Mädchen aus einem Bergbauernhof in Graz kennenlernen und dieses dann heiraten konnte. Ich war noch von dem Zeitgeist meines Alters gefangen, wonach erst lange schmachtende Liebesgeschichten abliefen, bevor es zu einer Liebesheirat kam. Meine Mutter sagte nur auf meine Frage, dass sie sich auf eine Annonce hin kennengelernt und in Eglfing bei München getroffen hätten. Das war im Sommer 1939, geheiratet haben sie dann ein halbes Jahr später im Dezember 1939 in München.

Später kam ich auf dieses Thema zurück, weil mich interessierte, wie sich die Liebe bei meinen Eltern entwickelte, die ich als sehr stark empfunden habe. Denn diese haben sich nur einmal gesehen und dann ein halbes Jahr später geheiratet. Die Antwort meiner Mutter war einfach und nüchtern zugleich, was ich viele Jahre lang nicht verstand. Sie sagte, Liebe entwickelt sich erst durch die Beziehung. Nicht Liebe stand also bei meinen Eltern zunächst im Vordergrund, sondern nur der Wunsch einer Familiengründung und die Überzeugung nach dem ersten und einzigen Treffen, dass beide hierfür geeignet sind.

Flüchtlinge sind mutige und tatkräftige Menschen


Als ich nach der Bergtour wieder zuhause war schaue ich mir die Bilder an, die ich vor wenigen Tagen im Münchner Hauptbahnhof gemacht habe. Jetzt sehe ich auch hier die Entschlossenheit der Flüchtlinge, ihre Tatkraft und Risikobereitschaft. Und zwischen den Menschen aus Syrien, die mit Österreichischem Zug in München angekommen sind, sehe ich eine junge Frau. So stelle ich mir meine Mutter vor, wie sie hier 1939 angekommen ist, wie sie lächelt und in tiefster Freude ist, ein neues Leben durch Heirat und Familiengründung mit meinem Vater in München beginnen zu können.

Ich möchte mehr von den Leuten kennenlernen, die ihre Heimat verlassen haben, meist - aus welchen Gründen auch immer - verlassen mussten. Ich erinnere mich an unsere Reisen nach Polen und Tschechien, in die ehemalige DDR, aber auch nach Sizilien, von wo aus viele Gastarbeiter nach München kamen und hier fleißig mitgearbeitet und am wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands mitgewirkt haben. Und ich erinnere mich an unsere Reise an die Lykische Küste in der Türkei. Zu unserer Geschichte von Europa gehören nicht nur alle Länder im Kerneuropa, sondern alle Mittelmeerländer, wie auch die in Nordafrika, also auch Syrien. 

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