Die Flüchtlingskrise
hat mir Fragen beantwortet, warum ich so gerne Europa bereise und diesen
Kontinent noch besser kennenlernen möchte:
Seit Wochen verfolge ich aufmerksam die Berichte zu den
Flüchtlingen aus Syrien, die in hoher Anzahl nach Deutschland kommen. Wenn ich
ins Büro fahre - ich steige am Hauptbahnhof in München um - sehe ich die
Menschen und ihre Gesichter, wenn sie in München mit dem Railjet, einer
österreichischen Bahn, ankommen. Müde, aber glücklich und zufrieden, keine
sichtbaren Spuren der schweren Strapazen, die sie hinter sich haben. Es berührt
mich mit tiefster Freude - und Achtung, Achtung vor den Menschen, die alles zurückgelassen
haben, Achtung vor den Menschen hier, die die Flüchtlinge herzlich empfangen.
Große
Flüchtlingswelle am 13. September 2015
Die Anzahl der ankommenden Menschen aus Syrien steigt
gewaltig. Alle Kapazitäten in München sind erschöpft, die Behörden überfordert.
Am Sonntag, den 13. September 2015 lese ich einen Aufruf, dass Matten für die
ankommenden Flüchtlinge fehlen, denn jetzt soll die Olympiahalle frei gemacht
werden für mehrere tausend Flüchtlinge, die bereits mit dem Zug unterwegs nach
München sind. Ich gehe in den Speicher und hole fünf große weiche Gummimatten
herunter, die als Gymnastikmatten dienten. Ich schultere den Berg an Matten, fahre
nach München, um sie zu spenden. Der Berg von Schlafmatten dort ist bereits
sehr groß, Helfer legen mein großes Paket dazu. Ich trage mich in die Liste
freiwilliger Helfer ein. Die Liste ist bereits sehr lang.
Angerufen hat niemand, denn am nächsten Tag wurden
Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich eingerichtet, so dass die
Zahl der Ankommenden stark zurückging. Weitere Helfer wurden jetzt nicht mehr
benötigt.
Ich frage mich, was der Grund dafür ist, dass mich das Thema
Flucht und Vertreibung so stark bewegt. Ich finde keine Antworten. Ich packe
meine Bergschuhe und gehe in die Berge. Ich weiß, dass ich hierbei Antworten
finde. Ich steige hinauf, kehre in einer Berghütte ein und als ich wieder im
Tal bin, habe ich Antworten. Ich komme mir vor wie Forrest Gump, nur dass ich
nicht an einer Bushaltestelle sitze, sondern in den Bergen rumgehe und einem
fiktiven Begleiter mein Leben erzähle und was mich bewegt.
Ich hatte schon von Beginn meines Lebens an viel Glück. Wahrscheinlich
haben sich irgendwelche mystischen Wesen - ich nenne sie Glückspferdchen - zur
Aufgabe gemacht, mich immerwährend mit Glück zu versorgen.
Das Glück fing schon mal damit an, dass der 2. Weltkrieg
bereits seit drei Jahren beendet war, als ich das Licht der Welt erblickte. Der
Zeitpunkt meiner Geburt war also gut gewählt. Meine ältere Schwester hatte
weniger Glück, sie wurde inmitten der stärksten Kriegswirren geboren.
Deutschland war zum Zeitpunkt meiner Geburt eingeteilt in vier
Besatzungszonen für die Siegermächte. Ich wurde in der amerikanischen
Besatzungszone geboren. Ich wusste dies nicht und es wäre mir damals auch egal
gewesen, es gab wichtigeres für mich. Wichtig war nur, dass ich meine Mutter
immer um mich hatte - morgens, mittags, abends und nachts.
Geboren in der
amerikanischen Zone
Glück war auch - jetzt zeigt sich, dass die Glückspferdchen
sehr weise waren - , dass ich nicht in der russischen Zone geboren wurde. Wenn wir
in der Ostzone gelebt hätten hätte ich bis zum Mauerfall 1989 viele für meine
Entwicklung wichtigen Jahre in einem totalitären Staat leben und dort ausharren
müssen, wenn meine Eltern nicht geflüchtet wären, was noch viele Jahre bis zum
Mauerbau 1961 möglich gewesen war. Aber sie wären sicherlich geflüchtet, sie
waren sehr tatkräftig.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass die meisten Menschen, die
mein Leben prägten, Vertriebene oder Flüchtlinge waren. Wo ist der Unterschied
zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen? Ich weiß es nicht. Letztlich ist da
aber auch egal.
Erst jetzt fällt mir auf, dass die meisten meiner späteren
Mandanten, mit denen ich lang und intensiv zusammenarbeite und sich hieraus
viele Freundschaften entwickelten, geflohen sind. Ein besonders tatkräftiger
Mandant floh rechtzeitig aus der Ostzone und errichtete hier ein weltweit
tätiges Unternehmen. Ein langjähriger Berufspartner, mit dem ich eine eigene
Sozietät hatte, erlebte bei der Flucht aus dem Osten als Kind die Bombardierung
Dresdens. Viele Freunde aus Weiden in der Oberpfalz wurden aus Tschechien
vertrieben. All diese Flüchtlinge schufen hunderte von Arbeitsplätzen und
trugen dadurch zu unserem Wirtschaftswunder bei.
Mich faszinierte bei diesen Personen die Entschlossenheit,
die Tatkraft und die Akzeptanz Risiken einzugehen, die sie aber stets wohlfein
kalkulierten. Allesamt waren sie hochmotiviert, keine Anzeichen einer Sinnkrise
und der festen Überzeugung, sie selbst sind ihres Glückes Schmid. Erst jetzt
werden mir diese Verbindungslinien zwischen Flucht und Tatkraft bewusst.
Große
Flüchtlingswelle bis 1961 aus der Ostzone
Von der großen Flüchtlingswelle aus der Ostzone in die
Westzone habe ich nichts mitbekommen. Zum Zeitpunkt des Mauerbaus war ich
gerade mal 13 Jahre alt. Ich war wohlbehütet und meine Eltern achteten darauf,
dass ich in einer heilen Welt aufwachse, in der es scheinbar keine Probleme, keine
schlechten Nachrichten, keine grausamen Erlebnisse gibt. Nichts, selbst Schundhefte
wie Micky Maus oder Fix und Foxi hatten mir meine Eltern anfangs verboten, bis
sie ihren Widerstand nicht auf Dauer halten konnten. Schundhefte waren damals
als Trivialliteratur geächtet, die einer guten Entwicklung eines Kindes abträglich
sein würden.
Ich war erst ein halbes Jahr alt, als die Bundesrepublik
Deutschland gegründet wurde. Das politische System, die Rechtsstaatlichkeit, die
zunehmende Wirtschaftskraft und die Flüchtlinge sollten meiner beruflichen
Tätigkeit und meiner persönlichen Entwicklung die wichtigsten Inhalte und
Erfolge gaben.
Familie und Staat
sponnen sich in einen Kokon ein
Erst sehr viel später wurde mir nach und nach bewusst, was
sich damals tatsächlich außerhalb unserer Innenwelt in der Familie abspielte,
welche Vergangenheit es gab, die die Gegenwarte prägte. Wir lebten wie in einem
Kokon, karg aber weich und in Liebe gebettet, abgeschottet von der realen
Außenwelt. Ich wollte mehr über die andere Welt außerhalb unseres Kokons
wissen. Ich fragte meinen damaligen Geschichtslehrer, wann wir denn zur ersten
Hälfte des 20. Jahrhundert kommen würden. Er sage, dass dies im Lehrplan nicht vorgesehen
sei, was bei mir völliges Unverständnis ausgelöst hatte. Die interessantesten
Themen wurden also ausgespart! So musste ich mich weiterhin mit dem Mittelalter
herumschlagen, was für mich damals so weit weg war wie die Steinzeit. Heute
verstehe ich, dass sich auch der Staat zu dieser Zeit in einen Kokon eingrub,
um die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auszufiltern.
Die Frage war nun, warum nicht nur die Schule sondern auch
meine Eltern die Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts von mir fern hielten. Zunächst glaubte ich, dass da bei meinen
Eltern nichts Besonderes vorgefallen war, was zu erzählen wert gewesen wäre.
Aber mit der Zeit erkannte ich, dass das genaue Gegenteil der Fall war.
Immer mehr wurde mir bei meinen Überlegungen klar, dass
meine Eltern mit der Familiengründung erstmals in ihrem Leben Glück fanden und
nach einer langen strapaziösen Reise am Ziel ihrer Träume angekommen waren. Zum
Schutz dieses Glücks bauten sie dicke uneinnehmbare Schutzmauern um diese
Realität, um sie zu verdrängen, um sie dadurch erträglicher zu machen. Es war
also der Kokon meiner Eltern, den sie um sich gebaut haben - und ich war
Nutznießer dieser abgeschotteten heilen Welt.
Weltwirtschaftskrise
Anfang der 30er Jahre - Vater als Frühwaise musste sich um seine minderjährige
Schwester kümmern
Ich war schon Jungerwachsener, als ich bruchstückhaft, wie
bei einem Puzzle, nach und nach erfuhr, wie das Leben meiner Eltern vor meiner
Zeit verlief. Mein Vater verlor bereits als er 15 Jahre alt war seinen Vater,
der an Krankheit starb. Mit 21 Jahren verlor er auch seine Mutter durch
Krankheit. Diese hat meinen Vater noch rechtzeitig gebeten, seine kleine
minderjährige Schwester zu versorgen. Und das alles ereignete sich zur
schlimmsten Zeit der Weltwirtschaftskrise. Mein Vater war arbeitslos und zu
dieser Zeit eine Arbeit zu finden, war praktisch unmöglich. Erst jetzt wurde
mir die Bedeutung der Bilder aus der Weltwirtschaftskrise Anfang der 50er Jahre
bewusst, die die langen Schlangen vor einem Unternehmen zeigten, das wenige
Arbeitsplätze zu vergeben hatte oder von Menschen mit umgehängten Schildern,
dass sie Arbeit suchen. Und zu dieser Zeit sollte mein Vater -gerade dem
Kindesalter entwachsen und Vollwaise - sein Versprechen der Mutter gegenüber
erfüllen und seine minderjährige Schwester versorgen.
All diese Schwierigkeiten hatte das Schicksal noch damit
garniert, dass er als Kind an Kinderlähmung erkrankte und dadurch etwas
gehbehindert war. Oder meinten seine Glückspferdchen es gut mit ihm? Denn wegen
seiner Gehbehinderung musste er im zweiten Weltkrieg nicht an die Front.
Welch enorme Kraft man hat, um den Zielen im Leben treu zu
bleiben wurde mir erst sehr spät bewusst. Meine Mutter wurde schwer krank, mit
86 Jahren starb sie, und mein Vater - im gleichem Alter - pflegte seine Frau lange
mit solch einer Kraft, dass wir Kinder immer Bedenken hatten, er werde das
nicht schaffen. Er schaffte es und wurde fast 94 Jahre alt.
Meine Mutter aus
einem Bergbauernhof in der Steiermark - kein Platz mehr für alle Kinder
Auch für meine Mutter war die Zeit bis zum Familienglück
alles andere als rosig. Sie wuchs als eines von vier Kindern auf einem
Bergbauernhof in der Steiermark auf. Die Schule war weit und mühsam und in den
Wintermonaten oftmals nicht oder nur schwer erreichbar. Die Eltern meiner
Mutter lebten karg, konnten sich aber über Tierhaltung und Anbau selbst versorgen.
Voller Einsatz war nicht nur von den Eltern, sondern auch von den Kindern
gefordert. Kinderarbeit war also für das Fortkommen der Familie notwendig.
Wie das Leben auf einem Bergbauernhof in den 30er Jahren in der
Steiermark gewesen sein muss wurde mir erst bewusst, als ich vor einigen Jahren
ein Bergbauernhofmuseum in Tirol in der Wildschönau besuchte. Dort ist ein
Bergbauernhof als Museum zu besichtigen, der in den 30er Jahren des vorherigen
Jahrhunderts aufgegeben wurde, weil es kein Fortkommen mehr gab. Der
Bürgermeister des Ortes organisierte, dass zumindest die jüngeren Bewohner des
kleinen Ortes eine Zukunft haben sollten und er organisierte die Auswanderung
nach Südamerika, wo ein Ort wie in Tirol errichtet wurde. Dadurch war Arbeit
und Fortkommen für die Auswanderer erzielt und für die Zurückgebliebenen
reichten die bäuerlichen Erträge.
Die Eltern meiner Mutter hatten Weitsicht. Sie schickten
meine Mutter auf eine Haushaltsschule, damit sie alles, was eine Familie
braucht, erlernt und damit für einen Ehepartner und eine Familiengründung
attraktiv genug ist. So hofften sie, dass sie meine Mutter unterbringen
konnten. Das erinnert mich daran, dass es bei den syrischen Flüchtlingen viele
alleinflüchtende Kinder gibt, die von ihren Eltern weggeschickt wurden - aus
Liebe, um wenigsten den Kindern eine bessere Zukunft geben zu können.
So war auf dem Bergbauernhof kein Platz für meine Mutter.
Die Hoffnung ihrer Eltern ging auf. Meine Mutter wanderte 1939 als 26-Jährige aus,
indem sie meinen Vater, ebenfalls 26 Jahre alt, aus München heirate und hierher
zog.
Schwiegertochter aus
Bulgarien
Wie nahe diese Themen in meinem Leben zusammenkommen erfuhr
ich durch meine Schwiegertochter. Diese ist in Bulgarien, eines der ärmsten
Länder in Europa geboren und aufgewachsen. Die Eltern wollten, dass sie deutsch
lernt, um eine bessere Zukunft zu haben, die sie in Bulgarien nicht finden
könne. Meine Schwiegertochter machte dies und kam dann nach Deutschland, um zu
studieren. Sie schaffte es aus eigener Kraft und ihr war wichtig, dass sie die
deutsche Staatsangehörigkeit ohne Heirat erreicht. Erst als sie die geschafft
hat, heiratete sie meinen Sohn. Auch bei ihr sehe ich die überaus große
Tatkraft.
Wieder zurück in meinem Leben: Irgendwann interessierte
mich, wie sich meine Mutter und mein Vater kennengelernt hatten. Mir war nicht klar,
wie ein Mann aus München während der dunklen 30er-Jahre ein Mädchen aus einem
Bergbauernhof in Graz kennenlernen und dieses dann heiraten konnte. Ich war
noch von dem Zeitgeist meines Alters gefangen, wonach erst lange schmachtende
Liebesgeschichten abliefen, bevor es zu einer Liebesheirat kam. Meine Mutter
sagte nur auf meine Frage, dass sie sich auf eine Annonce hin kennengelernt und
in Eglfing bei München getroffen hätten. Das war im Sommer 1939, geheiratet
haben sie dann ein halbes Jahr später im Dezember 1939 in München.
Später kam ich auf dieses Thema zurück, weil mich
interessierte, wie sich die Liebe bei meinen Eltern entwickelte, die ich als
sehr stark empfunden habe. Denn diese haben sich nur einmal gesehen und dann
ein halbes Jahr später geheiratet. Die Antwort meiner Mutter war einfach und
nüchtern zugleich, was ich viele Jahre lang nicht verstand. Sie sagte, Liebe
entwickelt sich erst durch die Beziehung. Nicht Liebe stand also bei meinen
Eltern zunächst im Vordergrund, sondern nur der Wunsch einer Familiengründung
und die Überzeugung nach dem ersten und einzigen Treffen, dass beide hierfür
geeignet sind.
Flüchtlinge sind
mutige und tatkräftige Menschen
Als ich nach der Bergtour wieder zuhause war schaue ich mir
die Bilder an, die ich vor wenigen Tagen im Münchner Hauptbahnhof gemacht habe.
Jetzt sehe ich auch hier die Entschlossenheit der Flüchtlinge, ihre Tatkraft
und Risikobereitschaft. Und zwischen den Menschen aus Syrien, die mit
Österreichischem Zug in München angekommen sind, sehe ich eine junge Frau. So
stelle ich mir meine Mutter vor, wie sie hier 1939 angekommen ist, wie sie
lächelt und in tiefster Freude ist, ein neues Leben durch Heirat und
Familiengründung mit meinem Vater in München beginnen zu können.
Ich möchte mehr von den Leuten
kennenlernen, die ihre Heimat verlassen haben, meist - aus welchen Gründen auch
immer - verlassen mussten. Ich erinnere mich an unsere Reisen nach Polen und
Tschechien, in die ehemalige DDR, aber auch nach Sizilien, von wo
aus viele Gastarbeiter nach München kamen und hier fleißig mitgearbeitet und am
wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands mitgewirkt haben. Und ich erinnere mich an
unsere Reise an die Lykische Küste in der Türkei. Zu unserer Geschichte von
Europa gehören nicht nur alle Länder im Kerneuropa, sondern alle Mittelmeerländer, wie auch die in Nordafrika, also auch Syrien.
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