Montag, 3. Juni 2013

Ein Winter im Spätfrühling

Es ist Ende Mai. Ich schaue aus dem Fenster und sehe nur zwei Farben - eintönig grauer Himmel und dichtes und kräftiges Grün, dem durch das fehlende Licht der Glanz fehlt. Seit vier Tagen regnet es beständig. Stabile Wetterlage nennt man das - im negativen Sinne. Dieses Wetter ist gut für die Arbeit im Haus und im Büro.
Ich denke daran, dass wir vor drei Wochen eine Zweitages-Bergtour gepant und diese erst auf Ende des Wonnemonats Mai gelegt haben, weil wir hoch hinaus wollen, nämlich von Garmisch-Partenkirchen durch das Reintal auf die Zugspitze. Zu dieser Zeit ist auch in den höheren Lagen der Schnee schon weitgehend weggeschmolzen. Da wir von großem Ansturm und schönem Wetter ausgegangen sind haben wir uns frühzeitig die Übernachtung auf der Reintalangerhütte gesichert. Morgen wollen wir starten.
Macht uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung? Nein, denn wir hatten vereinbart, auch bei schlechtem Wetter bis zur tiefer gelegenen Reintalangerhütte zu gehen und unsere Winterausrüstung mitzunehmen. Wir wollen dort entscheiden, ob wir weitergehen oder umkehren. Ein schöner Hütten-Spielabend in den Bergen ist ja auch ein lohnenswertes Ziel.
Am nächsten Tag ist es so weit, wir starten in Garmisch-Partenkirchen am Skistadion. Mein Gott, ist das Wetter scheußlich. Es regnet ohne Unterbrechung und es ist kalt. 5 Grad Celsius zeigt das Thermometer!
Wir lassen uns nicht entmutigen, ziehen unsere warme Kleidung an, verstauen die Schneeschuhe auf unseren Rucksäcken und klappen die Regenschirme auf. Wir sind eingepackt wie eine Schnecke in ihrem Haus.
Der Weg ist leicht, aber lang. Wir unterhalten uns und sind glücklich, dass wir losgegangen sind. Nach gut fünf Stunden Gehzeit kommen wir an der Hütte an, es schneit leicht. Die Wirtsleute sind glücklich, dass wir gekommen sind und nicht abgesagt haben. Wir sind die einzigen Gäste.
Am nächsten Morgen starten wir, es schneit noch immer, die Wolken hängen tief. Zu Zweit wollen wir zu der um 700 m höher gelegenen Knorrhütte gehen. Die anderen gehen zurück nach Garmisch-Partenkirchen. Bald wird der Schnee tiefer und wir legen die Schneeschuhe an. Wir kommen jetzt in die Wolken. Diese werden immer dichter. Die Sicht beträgt gerade mal 30 m. Ich gehe vor. Ein Weg ist nicht sichtbar und auch keine Markierung, so dass ich auf mein Gefühl, auf meine innere Navigation angewiesen bin, um den rechten Weg zu finden. Jeder Schritt ist ein Abenteuer. Es ist hell, aber man sieht keine Erhebung oder Vertiefung im Schnee. Man weiß nicht, wo man hintritt. Der Blick zum Boden und zum Himmel unterscheiden sich nicht. Keine erkennbaren Konturen. In jede kleine Vertiefung stolpert man hinein. Man muss den Berg spüren und schnell reagieren, um nicht hinzufallen. Denn ein Aufstehen aus dem Tiefschnee ist immer sehr mühsam und kräfteraubend. In einer solchen Situation ist man eins mit dem Berg, mit der Natur verschmolzen.
Jetzt sind wir seit gut zwei Stunden unterwegs. Ich habe ein gutes Gefühl, dass wir richtig sind und die Knorrhütte finden werden. Wir gehen weiter, es ist anstrengend. Trotz Schneeschuhen sinke ich oftmals bis zu den Knien in den Neuschnee ein. Jeder Schritt durch den tiefen Schnee verzehrt Kräfte. Immer wieder öffnet sich der Nebel etwas und man hat manchmal für kurze Zeit eine Sicht von 100 bis 200 m. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir richtig sind. Müssen wir mehr nach links oder geradeaus hinauf oder eher noch mehr nach rechts? Wenn wir die Knorrhütte nicht in einer Entfernung von maximal 100 oder 200 m treffen, dann gehen wir vorbei ohne es zu merken. Dann bliebe uns nur noch der Rückweg auf unseren Spuren, die allerdings durch den ständigen Neuschnee immer schwächer werden. Ich hole die Karte heraus und versuche, das innere Bild des zurückgelegten Weges mit der Karte abzugleichen. Die Unsicherheit bleibt. Ich entscheide mich für den Weg eher nach rechts. Ich bin stark konzentriert, irgendwelche Zeichen zu sehen, die mir die Entscheidung erleichtern.
Als sich der Nebel kurzzeitig wieder lichtet sehe ich etwa 50 m höher eine Stange herausragen. Das muss wohl eine Orientierungsstange für den Weg sein. Ich suche einen Aufstieg, an dem keine Lawinengefahr besteht. Auf einer langgezogenen Felsnase klettern wir hinauf zu der Stange. Der Hang ist sehr steil und wir gehen auf allen Vieren. An den Felsen können wir uns gut festhalten. Die Schneeschuhe krallen sich in Fels und Schnee.
An der Stange angekommen stelle ich fest, dass wir uns auf einer Hochfläche befinden. Hier liegen große Felsen, die teilweise bis vier Meter hoch sind. Mein inneres Gefühl macht einen Luftsprung. Wenn hier so große Felsen liegen, dann bedeutet dies, dass ein gutes Stück weiter Felswände sein müssen, aus denen diese herausgebrochen sind. Hinter der Knorrhütte befinden sich hohe Felswände, wie aus der Karte zu entnehmen ist. Da die Felsen aber nicht weiter heruntergerollt sind, bedeutet dies weiter, dass wir uns auf einer größeren Hochebene befinden. Das deutet darauf hin, dass auf dieser Hochfläche die Knorrhütte stehen müsste. Ich gehe gerade aus nach oben. Ich sehe nichts, aber ich merke, dass ich leicht ansteige. Nach etwa 10 Minuten Gehzeit lichtet sich plötzlich der Nebel für kurze Zeit und ich sehe unscharfe Konturen, die wie ein großes Berghaus aussehen. Ich gehe weiter und tatsächlich: die Knorrhütte liegt vor uns. Geschafft, gefunden!

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